Und wie war es für Dich?

Und wie war es für Dich?

ist eine Frage, die dem anderen Konfliktpartner vom Konfliktlotsen in der Mediation gestellt wird. Also, nachdem mir von einer langjährigen Freundin schwere Vorwürfe wegen der Teilnahme an einer gewalttätigen Coronaparty gemacht wurden, schreibe ich auf, wie es für mich war: der 7.11.2020 in Leipzig.

Ich besteige den ICE nach München, muss durch mehrere Waggons zu meinem reservierten Platz laufen. Beim Vorbeilaufen höre ich „Demo“ und denke „Ach ja, bin nicht die Einzige“. In dem Vierer-Abteil neben mir fahren drei Frauen und ein „junger Mann“ (ich bin fast 54 Jahre alt, ich darf das jetzt schreiben) zur Demo, wie ich den Gesprächen entnehme. Ich würde sie als „alternativ“ bezeichnen, wobei das natürlich eine Zuschreibung ist und nur der eigenen inneren Orientierung dient. Irgendwann hänge ich mich über die Sitze, denn eine Freundin hat mir per SMS mitgeteilt, dass die Demo nicht im Zentrum stattfinden soll. Doch die Anderen wissen auch nichts genaues, der Kontakt ist aber schon mal hergestellt. Es sind viele, die das gleiche Ziel haben. Man findet sich, durch Fragen, durch Gespräche, im folgenden Zug auch durch thematische Diskussionen. Die Atmosphäre ist engagiert bis entspannt.
Ich habe die Maske hochgezogen, neben mir sitzt eine Frau mit korrekter Maskenbedeckung und ich will niemandem zu Nahe treten, merke jedoch, wie ich den Zug abchecke nach dem Grad der korrekten „Tragweite“. Ich merke auch, wie schon jetzt meine Zusage an meinen Partner, den ganzen Tag die Maske zu tragen, bröckelt: also doch…, nach der Demo volle Heim- und Partnerschafts-Quarantäne.

„Immer den Jesuslatschen hinterher!“ war ein Spruch, der beschrieb, wie man als DDRler die anderen DDRler findet. An diesen Spruch denke ich, als ich zum Augustusplatz laufe ohne App und Stadtplan. Es ist ein Strom, locker, entspannt und doch ein Strom. Der Augustusplatz ist schon ziemlich voll. Obwohl noch eine Stunde Zeit ist bis zur Eröffnung. Ich sehe auch meine Nachbarn aus dem Viererabteil wieder. Ich gehe in Kontakt, die Menschen sind offen und positiv und es kommen immer mehr aus den Seitenstraßen: „Achtet auf die Abstände. Nutzt die ganze Fläche, jetzt sind auch die Seitenstraßen frei gegeben, es liegt in Eurer Hand: sorgt mit dafür, dass die Veranstaltung nicht aufgelöst wird…“ das sind die Mantras, die immer wieder durch gesagt werden. Auch ich verziehe mich weiter nach hinten zum „hans im glück“. Auf dem Weg dorthin beobachte ich, wie eine Frau mit einem Mann diskutiert, der eine Reichsflagge hält. Er lehnt an einem Pfahl und lässt uns „ackern“. Also ackern wir: ich gehe dazu und klinke mich in das Gespräch ein: „Bitte rollen Sie die Fahne ein“. Es entspinnt sich eine Diskussion, wie man für die Grundrechte demonstrieren kann und gleichzeitig fordern, dass jemand sein Statement zurücknimmt. Ja, da hat er recht. Es ist sein Grundrecht und gleichzeitig weiß er auch, was medial daraus gemacht wird. So ist es nun leider mal: also sage ich: „Du! bist herzlich willkommen!“ und … Fahne einrollen! „Mach damit gern eine eigene Demo, nicht hier“. Klar hat er recht und wir auch. Nach mir kommen noch mehrere, die mit ihm sprechen und er rollt dann irgendwann: GESCHAFFT! Doch gebe ich mich wirklich damit der Illusion hin, dass es friedliche, frohe, engagierte Bilder geben wird in der Tagesschau? Ich glaube, ehrlich, nicht daran. Zu sehr ist dieser Protest, dieses Verweigern der Angst, die Forderung nach einer offenen Diskussion auch mit Gegenmeinungen und -expertisen auf Augenhöhe, den Regierenden ein Dorn im Auge. Was würden friedliche Bilder auslösen? Vor mir fangen Leute an zu tanzen und ich mache mit. Ich bin begeistert, ENDLICH! FREUDE! Ich bewege mich, ich tanze zur Musik, versuche andere zu animieren. Was für ein Verbrechen begehe ich.
Es gibt einen Gottesdienst, von dem ich kaum etwas mitbekomme, da ich zu weit weg bin vom Lautsprecher und es Rückkopplungen gibt. Es gibt Reden und immer wieder das Mantra des Abstandes. Bei uns hinten ist noch gut Platz. Ich stehe jetzt hier mit Freundin und Bekannten. Wir tauschen uns aus über unsere Maßnahmen-Erfahrungen in der Schule. Es scheint nicht nur bei mir so zu sein, dass es keinerlei offene Infragestellung gibt. Wir befolgen die Vorschriften. Ich denke an die Hannah Ahrendt Ausstellung in Berlin: „Keiner hat das Recht zu gehorchen.“
Was mache ich mit meiner Verantwortung als Lehrerin, als Bürgerin, als Mensch? Wohin mit den Widersprüchen, mit dem realen Erleben, wenn ich den Fernseher und das Radio aus lasse? So diskutieren wir. Nach einem dreiviertel Jahr kenne ich einen Menschen, der erkrankt ist und wieder gesund, doch so viele Auswirkungen der politischen Maßnahmen, dass sie mein Leben und Erleben, meine Beziehungen, mein Befinden täglich beeinflussen und betreffen, oft nicht zum Guten. Ich bin hier, weil es eine Möglichkeit ist, zu sagen: so geht es nicht. Ich bin Bürgerin dieses Landes. Wenn Widersprüche und anderes Denken wieder diskreditiert werden durch eine Politik der Angst, dann finde ich das sehr gefährlich.
Beim Kaffee holen, in einer Nebenstraße, sehe ich dann eine der beschriebenen Nachbardemos. An jedem Straßen-„Ausgang“ soll es eine geben. Worum es geht, weiß ich nicht. Doch mit einem Mal gehen Böller los: „Polenböller“ sagen wir zu Silvester, sprich: richtig laut. Überall steht sowieso Polizei, die laufen in der Kette los, was Angst macht, doch wenn ich auch noch renne, wird es nicht besser. Ich rufe meiner Freundin zu: „Geh langsam!“ Sie bekommt Angst. Was passiert jetzt? Eine Gruppe aus vielleicht bis zu 20 schwarz gekleideten und maskierten Leuten geht die Straße lang, begleitet von der Polizei. Ich habe gehört, dass immer wieder die Antifa Demonstrationen „aufmischt“, Auseinandersetzungen provoziert. Also denke ich: ruhig bleiben, nicht darauf einsteigen. Als ich wieder auf den Augustusplatz gehen will, ist da eine Polizeisperre, die Versammlung wurde aufgelöst. Die Leute fangen an zu diskutieren, eine Zusammenarbeit zwischen Polizei und der Antifa wird spekuliert, denn die Gruppe wurde wohl direkt über das Versammlungsgelände von Querdenken geleitet. Aufgelöst wurde jedoch wegen fehlender Mund-Nase-Bedeckung, so wird es mir berichtet als ich wieder bei meiner Gruppe bin. Wir stehen noch lange dort. Viele sind gegangen, einige hunderte geblieben, der Platz ist groß. An einer Stelle steht ein Flügel und es spielt Musik, die Dämmerung zieht auf, ich hole meine mitgebrachte Kerze raus, gebe noch einen Kerzenschutz weiter. Eine Sängerin sagt, ihre Arbeit gelte seit März als lebensgefährlich für andere und wir singen gemeinsam, eingehakt mit meiner Freundin im Kerzenlicht. Aus der Ferne hören wir Trommeln und laute Rufe, da ist ganz klar etwas los in der Nebenstraße, doch wir gehen nicht hin, denn wir wollen hier im Frieden bleiben. Auf dem gesamten Augustusplatz ist es friedlich geblieben. Ich gebe meine Kerze weiter und laufe zum Bahnhof, die Polizei ist allgegenwärtig („wie jung die sind!“). Ich bin halt alt jetzt. Ich sehe einen Zug von Menschen, höre auch die Trommeln und Rufe. Ich gehe weiter Richtung Bahnhofstreppe. Für mich ist jetzt Heimreise. Auf dem Bahnhof gibt es dann noch eine grölende, von Polizei begleitete Gruppe. Ich ignoriere sie. Wer auch immer das ist. Es ist nicht meine Veranstaltung. Wir sitzen im Zug und wir Menschen reden immernoch und schonwieder miteinander. Das Thema ist der heutige Tag. Doch wir fahren nicht los. Mir gegenüber zählt eine Frau die Minuten bis zur Erkenntnis, dass sie Ihren ICE nicht kriegen wird. Auf dem Gleis steht die Polizei und dann wird klar, worum es geht. Wir werden alle kontrolliert, auf Maske oder Attest. Das soll wohl so auch schon am Vormittag gewesen sein. Unmut macht sich breit, „Polizeistaat“ höre ich empört. Auch ich bin kurz versucht, eine blöde Bemerkung zu machen. Doch ich will einfach freundlich bleiben. Erst nachdem die Beamten den Zug durchkontrolliert haben, fahren wir los.
Der ICE fährt dann auch wirklich den Leuten vor der Nase weg. Sie stehen ungläubig auf dem Gleis und gucken an dem losfahrenden Zug entlang.
Im Anschlusszug sitzt mit mir eine Frau im Viererabteil. Sie ist gebürtige Kanadierin, welterfahren und Sprachlehrerin. Wir reden und reden, bis zum Ostkreuz. Wir sind uns der Besonderheit des Tages und der Situation bewusst. Wann habe ich das letzte Mal E-Mail-Adressen ausgetauscht? Heute ist so ein Tag.
Es gibt die Zeile in einem Gerhard-Schöne-Lied: „Liebes Leben Danke für all Deine Gaben.“ – auch für diesen Tag.


H.W.